Mein Blog

Geschichten und Essen: beide sind Teil unseres Alltags, untrennbar verknüpft zu dem, was man Leben nennt.

abfabisch
  • Vanilleeis mit Mops
    picture by Nieves Barreto

    „Einmal Vanille, bitte!“
    „Kommt sofort“, lächelt Henry der Eismann und reicht mir gleich darauf die Waffel. Die Kugel ist groß, die Eistüte kann sie kaum halten. Ich schlecke sofort den Rand ab, das Eis ist cremig und sehr vanillig, oberlecker. Im Frostschloss gibt es das beste Eis der Stadt – und es liegt nur zwei Straßen von meinem Zuhause entfernt. Glück für mich, denn ich liebe Eis und es ist Sommer. Doch das sind nicht die einzigen Gründe, warum ich seit einer Woche jeden Tag hierherkomme. Es gibt noch einen weiteren, einen heimlichen: Ich will mich verlieben. Irgendwie tun das jetzt alle. Angefangen hat Holly, die Neue. Kaum da und schon ist sie das beliebteste Mädchen der Klasse. Plötzlich will jeder sein wie sie: perfekt geschminkt und immer trendy Sachen an, selbst bei Matschwetter. Mir ist das total schnuppe, aber seit meine besten Freundinnen auch dem Holly-Wahnsinn verfallen sind, bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als da mitzuspielen. Sonst bin ich irgendwann raus. Ich kann jetzt schon kaum mehr mitreden. Bei den anderen geht es nur noch darum, in den Ferien eine Sommerliebe zu finden. Ich finde zwar, dass es Spannenderes als rosa Herzchen gibt, will aber meine Freundinnen nicht verlieren. Also habe ich beschlossen, dass ich, Luna Paulsen, seit seinem Monat immerhin vierzehn, bereit für Schmetterlinge im Bauch bin. Und die erste Verabredung hat man ja bekanntlich in der Eisdiele. So steht es jedenfalls in Büchern. Also kann ich auch gleich hier warten, dass mein Date vorbeikommt. Und dabei gemütlich ein Eis essen. Ein guter Plan, finde ich, setze mich auf den Bordstein, blinzele in die Sonne und lasse die süße Vanille auf meiner Zunge schmelzen. Da schnuffelt plötzlich etwas Warmes und Feuchtes an meinem nackten Bein. Es ist ein Mops mit großen runden Augen und einer niedlichen Schnauze, aus der eine kleine rosa Zunge hängt. Ich kenne ihn, er scheint hier zu wohnen. Jedenfalls beäugt er mich immer neugierig, wenn ich mir ein Eis hole, heute will er wohl mal „Hallo“ sagen.
    „Hi Mopsi“, begrüße ich ihn. Er hechelt freundlich zurück. Dabei sieht er aus, als würde er lächeln. Ich klopfe auf den Platz neben mir und er setzt sich. Gemeinsam beobachten wir die Menschen, die vorbeikommen. Ein Traumprinz ist leider nicht dabei. Meine Eistüte ist fast leer, da spüre ich einen Blick auf mir ruhen. Es ist Mopsis. Er fixiert mich und die Waffel von der Seite. Seine Zunge tropft. Ob er was vom Eis abhaben will?
    „Das ist nicht gut für Hunde“, kläre ich ihn auf. Er winselt. Mein Herz schmilzt. „Vielleicht ein klitzekleines bisschen. Aber vorher frage ich dein Herrchen.“ Der Mops springt auf und wedelt. Er scheint mich zu verstehen, wie süß. Auch ich erhebe mich und frage Henry: „Darf der Hund ein wenig Eis?“
    „Weiß nicht.“ Henry zuckt mit den Schultern. „Schokolade vertragen sie nicht, habe ich gelesen. Vanille geht vielleicht. Aber ich kann das nicht entscheiden. Ist ja nicht mein Hund.“
    Das überrascht mich. Ich dachte, der Mops wohnt im Frostschloss. „Wem gehört er denn?“ Suchend sehe ich mich nach einem Herrchen oder Frauchen um.
    „Keine Ahnung. Er ist jeden Tag hier, wie du.“ Henry zwinkert mir zu. „Wegen der Krümel, nehme ich an. Ich gebe ihm immer frisches Wasser,“ er beugt sich vor und flüstert verschwörerisch, „und manchmal auch ein bisschen Futter.“
    „Aber du weißt nicht, wo er wohnt?“, hake ich nach.
    „Nein. Wenn ich morgens komme, ist er schon da. Schläft meist unter der Bank.“ Er deutet mit dem Kinn quer über die Straße. „Ich habe sogar schon Zettel mit einem Foto von ihm verteilt, darauf hat sich aber niemand gemeldet.“
    Ich stelle mir vor, wie Mopsi ganz allein nachts hier eingerollt liegt. Das zieht mir das Herz zusammen. Ich liebe Hunde. Als ich noch jünger war, wollte ich immer einen haben. Aber meine Eltern waren dagegen. Sie arbeiten viel und meinen, dass sie sich nicht auch noch um ein Haustier kümmern können. Ich hocke mich zu Mopsi und kraule ihn hinter den Ohren. Ein Halsband trägt er nicht und auch keine Hundemarke. Ist er ein Ausreißer? Oder ein Ausgesetzter? Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Mopsi ist so zuckersüß. Er hechelt mir sein breites Hundelächeln ins Gesicht und gibt mir sogar Pfötchen. „Willst du ihn nicht adoptieren?“, frage ich Henry.
    Der schüttelt den Kopf. „Geht nicht. Ich habe eine Hundehaarallergie.“
    Wie doof. Armer Mopsi. Ich setze mich wieder mit ihm auf den Bordstein und gebe ihm ein Stückchen Waffel mit einem Klecks Vanille. Mopsi schlabbert es ratzfatz auf. Ich knuspere meinen Rest, dann muss ich los: zum Malkurs. Mopsi winselt. Ich knuddle ihn ausgiebig und verspreche, morgen wiederzukommen.

    „Eine Kugel…“ „Vanille“, unterbricht mich Henry und schaufelt bereits das Eis in die Tüte. Mopsi tanzt aufgeregt um mich herum. Ich freue mich auch total, ihn zu sehen. „Hallo Mopsi, ich habe dich richtig vermisst!“ Gestern Abend konnte ich lange nicht einschlafen, weil ich die ganze Zeit daran denken musste, dass Mopsi jetzt allein unter seiner Bank liegt. Aber jetzt scheint die Sonne, alles ist wunderbar und Mopsi quietschfidel. Wir toben erst ein bisschen, dann setzen wir uns auf den Bordstein. Ich erzähle Mopsi von meinem Tag: dass ich superätzend Mathenachhilfe hatte und mein Zimmer aufräumen musste. Mopsi hechelt verständnisvoll, das tut gut. Dann zeige ich ihm auf dem Handy ein Foto von der Sonnenblume, die ich gestern im Malkurs gezeichnet habe. Mopsi schlabbert über das Display. „Ih“, lache ich und wische die Hundespucke ab, dabei kommt mir eine Idee. „Morgen zeichne ich dich.“ Mopsi bellt. Er scheint das toll zu finden. Schade nur, dass er kein Zuhause hat, wo er das Bild aufhängen kann. Am liebsten würde ich ihn in mein Zimmer schmuggeln. Er könnte in dem alten Puppenbett schlafen, das wäre voll schön. Vielleicht sollte ich meine Eltern doch noch einmal wegen eines Haustiers fragen. Schließlich bin ich jetzt schon vierzehn und kann mich allein um Mopsi kümmern. Oder? Ganz sicher bin ich mir nicht. Wie auch immer, ich bringe Mopsi nachher meine alte Babydecke vorbei, damit er es unter seiner Bank auch gemütlich hat. Einigermaßen zufrieden mit meinem Plan gebe ich ihm seinen Eisklecks. Dabei bemerke ich aus dem Augenwinkel schicke Chucks, die auf einem Skateboard auf mich zurollen. Sie gehören Enno. Enno aus der Acht C. Er sieht cool aus mit seiner zerschlissenen Jeans und dem California-Shirt. Lässig flippt er sein Skateboard hoch und klemmt es unter den Arm. Ein paar Mädels aus meiner Klasse finden ihn süß. Ich auch? Vielleicht.
    „Hallo“, sage ich und bekomme heiße Wangen. Ist es jetzt soweit? Wird Enno mein erstes Eis-Date? Ich fühle mich ganz kribbelig. Bin ich etwa schon verliebt?
    „Hi Luna, was geht?“ Er grinst schief und holt sich eine Eiswaffel: Schoko, das sehe ich, als ich kurz über die Schulter blicke. Jetzt kommt er zu mir. Mein Herz klopft. Ob er sich wohl neben mich setzt? Er tut es. Ganz nah. Nur Mopsi ist zwischen uns. Der macht plötzlich merkwürdige Geräusche. So, als müsse er sich dringend mal das Näschen putzen. Enno schaut auf ihn runter und hebt angewidert die Augenbraue. Auch wenn ich Enno sonst ganz okay finde, mag ich diesen Blick überhaupt nicht.
    „Der röchelt ja wie Darth Vader“, gluckst Enno. Ich kann darüber nicht lachen. Schützend lege ich meine Hand auf Mopsis Rücken. Enno macht seltsame Atemgeräusche und findet sich dabei urkomisch.
    „Und, was machst du so in den Ferien?“, lenke ich das Gespräch auf ein anderes Thema. Ich will nämlich, dass mein erstes Date schön wird.
    „Am Pool chillen, tiktok, niksen.“
    „Nixen? So mit Fischschwanz?“, rutscht es mir raus. Enno lacht sich knusprig, ich werde knallrot.
    „N i k s e n“, buchstabiert er.
    „Aha“, mache ich, habe aber immer noch keine Ahnung, was er meint. Peinlich. Mopsi leckt tröstend meine Hand.
    „Au Mann, Luna, du bist zum Wegschmeißen“, kichert Enno in seine Eiswaffel.
    „Ja, ha, ha“, lache ich künstlich. Das klingt selbst in meinen Ohren zum Weglaufen. Mopsi knurrt Enno an. Will er mich etwa beschützen? Ich kraule ihm beruhigend hinterm Ohr.
    „Ist das dein Hund?“
    „Nein“, antworte ich. „Er ist ein Streuner.“
    „Die haben doch Flöhe“, ekelt sich Enno und rückt von Mopsi ab.
    Ich merke, wie ich sauer werde. „Sei nicht so mies“, sage ich und nehme Mopsi auf meinen Schoß. Der sieht mich verliebt an. „Er ist mein Freund.“
    „Du hast ja einen interessanten Geschmack: klein, pummelig und Hängezunge“, grinst Enno auf mich und Mopsi herab. Ich finde sein Lächeln plötzlich nur noch doof.
    „Besser, als mit hochnäsigen Kohlköpfen abzuhängen“, ätze ich zurück. Nein, mit so jemandem will ich nicht befreundet sein. Mopsi wohl auch nicht: er pupst laut, gleich zweimal hintereinander. Der Gestank ist unerträglich.
    „Igitt“, motzt Enno und springt auf. Dabei kleckert Eis auf seine Jeans: ein Riesenfleck Schoko. „Scheiße!“, motzt er.
    „Stimmt, sieht exakt so aus“, lache ich. Enno wirft mir einen giftigen Blick zu, dann rollt er auf seinem Skateboard davon. Mopsi gibt mir Pfötchen. „High five“, kichere ich. Wir beide sind so dicke, einen besseren Freund kann ich mir nicht wünschen. Heute folgt Mopsi mir bis nach Hause. Ich knutsche ihm einen Abschiedskuss aufs Fell. Mopsi sieht mich mit seinen schwarzen Kulleraugen so lieb an, es bricht mir fast das Herz, ihm Tschüs zu sagen. Ich nehme mir vor, noch heute mit meinen Eltern zu reden. Ob mein Taschengeld für das Hundefutter reicht, muss ich noch checken. Zur Not gehen Mopsi und ich Zeitung austragen.

    „Hier, dein Vanilleeis.“ Henry hat mich scheinbar schon von Weitem gesehen.
    „Wuff.“ Mopsi springt an meinem Bein hoch und führt einen wilden Freudentanz auf.
    „Er sitzt seit heute früh auf dem Bordstein und wartet auf dich“, weiß Henry zu berichten.
    „Wie lieb!“ Ich kraule meinen Hundefreund unter dem Kinn. Mopsi schließt genüsslich die Augen. Leider habe ich keine guten Nachrichten für ihn: Meine Eltern sind gegen einen Haushund, weil er die ganze Zeit allein wäre, während ich in der Schule bin. Dementsprechend trübsinnig bin ich heute. Doch jetzt, da Mopsi bei mir ist, fühle mich schon viel besser. „Komm, wir gucken Leute.“ Vielleicht ist ja sogar mein Eisprinz dabei. Aber es kommen nur alte Opis, gestresste Mütter und verliebte Pärchen vorbei. „Ob die alle Urlaub machen?“ So wie meine Freundinnen, die mir jeden Tag Bilder vom Meer und Selfies mit irgendwelchen Surfer-Typen schicken. „Was, wenn die süßen Jungs auf Campingplätzen sind?“, frage ich Mopsi. „Dann habe ich hier keine Chance.“ Mopsi bellt aufgebracht. „Ist ja gut“, lache ich. „Du bist mein Liebling.“
    „Wuff“, macht Mopsi, scheinbar besänftigt.
    „Entspann dich mal, du kleiner Kläffer“, sagt eine Stimme hinter mir. Sie gehört Lukas, den habe ich gar nicht kommen gesehen. Er trägt Sportklamotten und einen Fußball unterm Arm. Lukas und ich haben zusammen Französisch, ich finde ihn witzig. Über seine frechen Sprüche kann ich mich immer kringelig lachen. Aber dass er Mopsi einen kleinen Kläffer genannt hat, finde ich nicht so lustig. Lukas nimmt Erdbeer und setzt sich neben mich.
    „Süßer Hund“, sagt er und ich verzeihe ihm den Kläffer. Mopsi brummelt, er scheint noch etwas eingeschnappt zu sein. Lukas lässt sich davon nicht einschüchtern. Er macht es sich bequem und redet von Fußball. Ich schaue ihm verträumt beim Eisessen zu, fasziniert von seinen Lippen und frage mich, wie wohl mein erster Kuss wird. Bis ich von etwas Feuchtem auf meiner Wange aus meinem Tagtraum geweckt werde. „Wäh“, quieke ich. Mopsi hat mich abgeschlabbert. Jetzt hechelt er mich mit einem breiten Grinsen an. Lukas lacht sich schlapp, Mopsi macht einen unverhofften Satz auf ihn zu, schnappt sich seine Eistüte und rennt weg. „Mopsi, nein!“, rufe ich. Aber der hetzt mit einem Mordstempo den Gehweg entlang. Ganz schön sportlich. Hätte ich dem kleinen Kerl gar nicht zugetraut.
    „Stopp, du Dieb“, brüllt Lukas und läuft ihm hinterher. Ich frage mich unwillkürlich, was er tut, wenn er Mopsi einholt. Will er das Eis zurückhaben? Und es dann noch essen? Die Vorstellung erheitert mich. Aus meiner Sicht ist es sinnlos, Mopsi einfangen zu wollen. Trotzdem rapple mich auf und folge den beiden, muss aber bald anhalten, weil ich vor Lachen Seitenstechen bekomme. Dieses Bild vor mir ist einfach zu komisch: Ein kleiner Mops fetzt mit Eistüte im Maul über die Straße, dahinter ein schimpfender Fußballer und ich, ich kann nicht mehr. Ich gebe auf. Kichernd und glucksend gehe ich zurück zur Eisdiele und warte auf die beiden. Mopsi kommt als Erster zurück. Er schaut mich treuherzig an. An seiner Schnauze klebt Erdbeereis. Ich kann ihm nicht böse sein. Kurze Zeit später kommt Lukas keuchend um die Ecke. 
    „Sorry“, entschuldige ich mich für meinen Hundefreund. Lukas fordert Ersatz. Ich soll ihm eine Eistüte spendieren. Das sehe ich nicht ein. Der Sommer ist lang und außerdem brauche ich das Geld für Hundefutter. Ich will Mopsi nachher welches kaufen. „Da musst du schon Mopsi fragen, schließlich hat er dein Eis geklaut“, bleibe ich stur. Das findet Lukas überhaupt lustig, sauer haut er ab. Mopsi winselt schuldbewusst. „Lass mal, einen ohne Humor will ich nicht“, beruhige ich ihn und spendiere uns beiden noch ein Eis.


    Der nächste Tag ist grau und kühl, aber das macht mir nichts. Ich freue mich schon den ganzen Vormittag auf meinen Eisdielenbesuch. Und vor allem auf Mopsi.
    „Einmal Vanille – und einmal Leberwurst.“ Henry reicht mir zwei Waffeln, als ich bei ihm ankomme.
    „Leberwurst?“ Ich schnuppere an der graubraunen Kugel.
    „Habe ich selbst entwickelt: für Mopsi und all die anderen Hunde, die mit Frauchen oder Herrchen Eis essen gehen.“ Henry grinst stolz. „Die Waffel ist aus Hundecrackern, das war ein ganzes Stück Arbeit, die in Form zu kriegen.“
    „Mega!“, staune ich und bin fast versucht, davon zu kosten. Aber Leberwurst ist nicht so mein Ding, also bleibe ich besser bei meiner Vanille.
    „Mopsi hat schon eine Kugel probiert“, verrät mir Henry. „Er hat mir fünf Tatzen gegeben.“ So, wie Mopsi aufgedreht um mich herumhüpft, glaube ich ihm das gern. Er will an seine Leberwurstwaffel. Erstaunlich, wie hoch er springen kann. Ich mache noch ein paar Kunststücke mit ihm und dem Leberwursteis („Hop, rauf auf den Stuhl, super, und jetzt drunter durch: fein gemacht!“) dann setzen wir uns auf den Bordstein. Einvernehmlich schlecken wir unser Eis. Mopsi ist mit seiner Hundezunge schneller als ich, dafür leckt er sich noch eine kleine Ewigkeit genüsslich über die Lefzen. Als ich aufgegessen habe, hole ich das Bild raus, das ich für Mopsi gemalt habe. Es zeigt ihn mit einer Eiswaffel im Maul. Mopsi bellt. Ich glaube, ihm gefällt das Bild.
    „Das sieht ja toll aus“, sagt da jemand hinter mir. Es ist Moritz. Er geht in meine Klasse und sitzt immer in der letzten Reihe. So richtig beliebt ist er nicht. Vielleicht liegt das an seinem Topfschnitt und den merkwürdigen Klamotten. Seine Pullis haben oft hässliche Karomuster und die Hosen sind meist zu kurz. Moritz ist groß und dünn, die anderen Jungs nennen ihn Laternenpfahl. Ich selbst habe nicht viel mit ihm zu tun, ich bin in den Pausen mit Mia und Sara zusammen (und seit kurzem notgedrungen auch mit Holly). Keine Ahnung, was Moritz so in seiner Freizeit macht. Eisessen, scheinbar. Aber bitte nicht mit mir. Wenn mich jemand, oder (Katastrophe!) gar Holly mit ihm sieht, zieht sie mich hundertpro damit auf. Und zwar wochenlang.
    „Ja, ähm, danke“, erwidere ich auf sein Lob und hoffe inständig, dass Moritz sich nicht zu mir setzt. Er tut es. Besetzt einfach den Traumprinzenplatz, obwohl er gar keiner ist. Ich bin wenig begeistert. Mopsi hingegen schon. Er schnüffelt Moritz aufgeregt ab und krabbelt ihm auf den Schoß. Ist Mopsi etwa verliebt?
    „Du riechst Kessy, was?“, lacht Moritz und knuddelt Mopsi ausgiebig. „Das ist meine Pudeldame.“ Mopsi hechelt, fast sieht es aus, als wenn er nickt. „Wie heißt dein Hund?“, fragt Moritz mich interessiert.
    „Ich weiß nicht“, antworte ich und will schon „er ist nicht mein Hund“ hinzufügen. Aber das fühlt sich irgendwie nicht richtig an. Mopsi ist mein Freund. „Ich nenne ihn Mopsi“, sage ich und erzähle Moritz die ganze Geschichte. Warum, weiß ich selbst nicht. Aber Moritz kann gut zuhören, und er liebt Hunde. Das mag ich. Moritz findet, dass Mopsi ein cooler Name ist. Und als ich ihm verrate, dass ich echt traurig bin, weil ich Mopsi nicht behalten darf, bietet er an: „Wenn Du willst, komme ich mit und erkläre deinen Eltern, dass das gar kein Problem ist mit einem Hund. Ich kümmere mich um Kessy auch allein.“
    „Und wie ist das mit der Schule?“, hake ich nach. Die Idee, Mopsi zu adoptieren, wird wieder realer.
    „Ich gehe frühs mit ihr Gassi, dann wartet sie, bis ich wieder zurück bin und am Nachmittag machen wir eine große Runde.“ Er zuckt mit den Schultern. „Vormittags döst Kessy in ihrem Körbchen oder spielt mit einem Quietschball.“
    „Und wo ist sie jetzt?“ Mein Herz klopft aufgeregt, sollte es wirklich so einfach mit einem Hund sein?
    „Schläft“, erwidert Moritz. „Ich war mit ihr joggen. Jetzt ist sie fix und fertig.“ Er lacht. Dabei hat er niedliche Grübchen. Ist mir vorher noch nie aufgefallen. In meinem Bauch tanzen kleine Mopsis. Moritz ist netter als gedacht. Ich will ihn gerade zu Kosten für Hundefutter und Tierarzt befragen, da kommt Enno um die Ecke. Lukas ist bei ihm und Holly. Na bravo, auf die habe ich ja gar keine Lust. Ich will mich ungestört mit Moritz unterhalten. Was Holly und die anderen davon halten, ist mir plötzlich egal. Aber ich fürchte, sie werden dumme Sprüche machen und das nervt. Mopsi fängt augenblicklich an zu knurren. Er scheint eine gute Menschenkenntnis zu haben.
    „Wen haben wir denn da? Luna und der Flohzirkus“, grölt Enno und sagt zu den anderen gewandt: „Achtung, der Mops ist ein mieser Stinker, haltet euch die Nasen zu.“
    „Und eure Eistüten fest“, mault Lukas und wirft Mopsi einen bösen Blick zu. „Mir hat er gestern das Eis gemopst.“
    „Funny“, kichert Holly und hakt sich bei Enno unter. „Da haben sich ja die Richtigen gefunden.“
    Mir wird plötzlich heiß vor Wut. „Ihr Blödpesen euch ja offensichtlich auch. Wie wollt ihr denn genannt werden? Enno & die einfältigen Esel. Oder lieber: Lukas & die lahmen Luschen!“, sprudelt es aus mir wie aus einem überkochenden Geysir. Es reicht. Ich war lange genug nett zu Holly und ihren Anhängern – die alle auslachen, die ihrer Meinung nach nicht so hip und cool sind wie sie. Erst gestern hat Holly sich über meine Zöpfe lustig gemacht: die seien wie die von einem Kindergartenkind. Moritz nimmt meine Hand, will mich wohl abhalten, weiter zu motzen, aber ich kann nicht anders. „Ich hab’s: Holly und die Hohlbirnen.“ Hollys hübsches Gesicht verzieht sich zu einer fiesen Fratze. Sie tritt einen Schritt auf mich zu, holt aus – und schnappt sich meine Zeichnung. „Wie hässlich. Ist das ein Selbstportrait?“ Sie zeigt es den Jungs. Die prusten los.
    „Gib’s mir zurück!“ Ich springe auf und will ihr das Bild entreißen. Aber Holly hält es außer Reichweite, gibt es ab an Lukas, der hechtet zur Seite. Moritz will mir helfen. Mit seinen langen Armen hat er das Bild fast. Aber Lukas knüllt es zusammen und wirft es weiter zu Enno.
    „Hol’s dir doch“, grinst der blöde. Und heult gleich darauf laut auf. Mopsi hat seine Zähne in Ennos Jeans versenkt. Er zerrt an dem Hosenbein. Enno kreischt: „Nehmt das Monster weg!“ Lukas und Holly retten sich auf die nächste Bank.
    „Das Bild“, sagt Moritz ruhig. Enno wirft es ihm vor die Füße.
    „Ist gut, Mopsi“, beruhige ich meinen kleinen Fellfreund. Der lässt von Ennos Jeans ab und sieht mich mit treuen Augen an.
    „Dafür wird der Köter zahlen!“, schreit Enno.
    „Wofür denn?“, will Henry wissen, der jetzt auch dazugekommen ist. „An deiner Jeans ist gerade mal ein feuchter Fleck. Ich schlage vor, ihr geht erst mal heim, Händewaschen, dann könnt ihr auf ein Eis wiederkommen.“ Holly und Lukas machen sich schon davon, Enno schnaubt und haut auch ab.
    Ich nehme Mopsi auf den Arm und muss mich erst mal setzen. Meine Beine zittern noch vor Wut und der Courage, die ich von mir gar nicht gewohnt bin. Moritz streicht das Bild glatt und holt das Eis, das Henry uns auf den Schreck spendiert. Als er mir die Eistüte mit einem schiefen Grinsen reicht, frage ich mich unwillkürlich, ob das jetzt mein erstes Eis-Date ist. Glaube schon. Hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt. Aber ich find es so total super. Da sitze ich mit meinen beiden neuen Freunden und lache über Ennos dummen Gesichtsausdruck. Mopsi pupst. Moritz lacht. Morgen bringt er Kessy mit. Und dann überreden wir meine Eltern, dass Mopsi bei mir einziehen darf. 

  • Espresso für zwei
    picture by Nieves Barreto

    Ich bin schon eine ganze Weile auf der Suche: nach dem perfekten Kaffee. Den habe ich nach langem Ausprobieren endlich gefunden. Jetzt fehlt nur noch der passende Mann, mit dem ich ihn trinken kann. Das wird nicht leicht. Denn ich bin eine komplex-emotionale Kaffeetrinkerin. Das heißt, ich brauche je nach Stimmung eine andere Zubereitung. An einem gewöhnlichen Tag ohne besondere Vorkommnisse und zu einer beliebigen Uhrzeit sollte er schwarz und heiß sein. Keine Milch. Außer ich bin traurig, dann brauche ich die tröstende Milde von Reismilch. Eine Kuh kann das nicht. Espresso mit Zucker nur in einer lauen Sommernacht, am besten auf der Terrasse meines Lieblingsitalieners. Und Frappé trinke ich immer beim Shoppen mit meiner Schwester, sonst nie. Ich weiß, ich bin in dieser Hinsicht etwas speziell, fast freakig. Das war nicht immer so. Zwar trinke ich Kaffee seit ich denken kann. Habe ihn quasi mit der Muttermilch eingesogen. Meine Mutter war Ärztin im Schichtdienst und dauermüde. Ich selbst arbeite bei einer Versicherung, da gibt es andere Gründe, Kaffee zu trinken, um wach zu bleiben. Früher war ich allerdings eine unkritische Kaffeetrinkerin. Habe alles geschluckt ohne auf den Inhalt zu achten. So ähnlich habe ich es auch mit den Männern gehalten. Das hat sich böse gerächt: Ich wurde mies hintergangen, habe meinen Kummer abends in billigem Rotwein und morgens mit literweise Kaffee ertränkt – was mir ein schlimmes Magengeschwür und die Erkenntnis eingebracht hat, dass es so nicht weitergehen kann. Das ist vor einem Jahr gewesen. Nun setze ich auf Qualität. Ich möchte den Perfect Match: beim Kaffee und dem, der ihn in meinem Bett trinkt. Dazu musste ich erst mal herausfinden, was ich mag: den Geschmack vulkanischer Böden, Röstgrad aus der Hölle oder süßes Schaumkrönchen? Arabica oder Robusta, lieber Handfilter oder doch Frenchpress, auf jeden Fall fairtrade und bio, sogar Monsun-Kaffee aus Indien habe ich probiert. Nur Katzenkackakaffee habe ich mir verkniffen. Monatelang habe ich gebrüht, gekostet, genossen und manchmal auch in den Ausguss gekippt. Dabei habe ich viel gelernt: über Anbaugebiete, Mahlgrad, Ziehzeit – und über mich selbst. Schließlich musste ich dauernd in mich reinhorchen: Kann ich den Milchschaum oder mich selbst nicht leiden? Schmeckt mir der Kaffee oder ganze Tag nicht? Und warum? Es war ein langer Weg. Aber jetzt weiß ich genau, was ich will: schlicht und edel soll er sein; stark mit einer sanften Seite. Und genau so stelle ich mir auch meinen Traummann vor. Dabei ist es mir egal, ob er blond oder glatzköpfig ist, Fußball spielt oder Ballett tanzt. Ich brauche keine schlauen Matching-Algorithmen, ich muss einfach nur einen Kaffee mit meinem potenziellen Partner trinken. Durch diesen Filter fallen gewiss einige durch.
    Erste Testperson für meine Kaffeefiltermethode ist Ole. Ole aus der Buchhaltung. Er ist einen Kopf größer als ich, hat weizenblondes Haar, ozeanblaue Augen und ein schüchternes Lächeln. Wir quatschen des Öfteren auf dem Gang, meist Berufliches. Ich finde ihn attraktiv und sympathisch, also verabrede ich mich mit ihm zum Mittagessen. Ole nimmt die asiatische Reispfanne, ich den vegetarischen Auflauf. Wir reden über dies und das, die neue Imagekampagne, den geplanten Stellenabbau, seinen Hund Rudi (ein Labrador) und dass ich im Sommer ans Meer will. Die Sonne scheint golden durch die großen Kantinenfenster, Ole hat eine angenehm warme Stimme, ich stelle mir uns am Strand mit Rudi und einem Kaffee vor: es wird Zeit für den Test!
    „Noch ein Kaffee?“, frage ich beiläufig.
    Ole nickt: „Gern. Was möchtest du?“
    „Ein Americano, bitte.“ Der ist hier tatsächlich nicht schlecht. Wenn man außerhalb Kaffee trinkt, muss man Kompromisse machen.
    „Ich mach das schon“, gibt Ole den Kavalier.
    Ich mag ihn, darum würde ich den Kaffee lieber selbst holen. Für uns beide. Um sicher zu gehen, dass er den Richtigen nimmt. Dass er der Richtige ist. Aber ich kann ihn nicht aufhalten, nicht, ohne mich lächerlich zu machen. Nervös rutsche ich auf meinem Stuhl herum, Ole geht zur Kaffee-Insel, ich halte die Luft an, kann kaum hinsehen, als er jetzt seine Bestellung entgegennimmt: einen Latte macchiato. Tief durchatmen, vielleicht war es ein Versehen, ausgelöst durch Urlaubsträumereien mit happy Sonnenschein, das kann schon mal passieren. Doch dann greift er zum Karamellsirup und ich bin raus. Mir kleben schon vom Hinsehen die Lippen zusammen und Milchschaumbärte finde ich leider nicht süß.
    „Oh, schon so spät! Sorry, ich muss los“, entschuldige ich mich, als er zurückkommt, nehme ihm den Americano ab und weg bin ich. Dabei fühle mich total mies. Was tue ich hier eigentlich? Ist es nicht irre, Kaffeevorlieben als Basis für eine glückliche Beziehung zu sehen? Hatte ich in den vergangenen Wochen zu viel Koffein? Oder bin das einfach ich: kaffeeverrückt und ausgeflippt! Ich fürchte fast, so ist es. Die Frage ist nur: gibt es jemanden, der diese Kombination mag? Ich weiß es nicht. Nach einer durchgrübelten Nacht beschließe ich, es noch einmal mit meiner fragwürdigen Methode zu wagen. Das erscheint mir tausendmal besser, als auszugehen, im Bett zu landen und erst beim Morgenkaffee zu merken, dass man nicht zusammenpasst. Außerdem hat es den Vorteil, dass mein Date mich und meinen Kaffeeknall kennenlernt. Übrigens, mit Ole verstehe ich mich immer noch bestens. Aber Kaffee trinkt er jetzt lieber mit Sina aus dem Marketing: Latte macchiato, mit Schokoriegel dazu. Die beiden sind ein echt süßes Paar.
    Zurück zu mir: Mein nächster Versuch ist Thilo vom Yoga. Thilo ist sehr gelenkig und schön muskulös. Er geht achtsam durchs Leben, das bemerke ich gleich. Auf unserem Spaziergang durch den Park sehe ich mehr Vögel, Blümchen und interessante Wurzeln als in den letzten zehn Jahren. Ich bin begeistert und frage mich, wie voller und bunter meine Welt wohl wird, mit Thilo an meiner Seite. Viel zu schnell ist unsere Runde vorbei, mein Herz klopft bis zum Hals als ich ihn frage: „Wollen wir einen Kaffee trinken?“ Ich drücke die Daumen bis sie wehtun und füge mutig hinzu: „Oder Tee?“
    Thilo lächelt mich an: „Schöne Idee.“
    Ich kann die Anspannung kaum mehr aushalten: was jetzt, „Tee oder Kaffee?“, hake ich nach.
    „Lass uns in den kleinen Kessel gehen. Die haben ausgezeichneten Tee und auch Kaffee.“
    Die Wortkombination „ausgezeichneter Tee“ versus „auch Kaffee“ lassen mich zusammenzucken. War ja klar: Thilo ist Teetrinker.
    Ich trinke selten Tee. Eigentlich nie. Tee hat etwas Deprimierendes, finde ich. Den bietet man an, wenn jemand gestorben oder die Ehe futsch ist. Dann umklammert man die Teetasse und heult sich aus, rein in den Aufguss aus toten Pflanzen. Keine Ahnung, warum man dann keinen Kaffee trinkt. Vielleicht, um das angeknackste Herz zu schonen. Das hätte ich damals, als mein Verlobter mit meiner besten Freundin abgehauen ist, möglicherweise auch tun sollen. So ein Magengeschwür ist eine fiese Sache. Aber das ist alter Tee von gestern, jetzt brauche ich dringend einen Kaffee und Thilo ist sexy, also machen wir uns auf in den kleinen Kessel. Der Kaffee dort ist überraschend gut, er kommt in einer Chemex, die nicht nur entzückend aussieht, sondern auch richtig guten Kaffee macht. Ich nippe an dem dunkelbraunen Getränk und höre Thilo zu, wie er über Teesorten und deren Zubereitung philosophiert. Ob er vielleicht enttäuscht ist, dass ich eine Kaffeetrinkerin bin? Oder ist das gar eine positive Fügung? So Yin-Yang-mäßig: Tee-Thilo und Kaffee-Kim. Jeder brüht sein eigenes Tässchen, wir sitzen einvernehmlich beeinander und genießen das Leben. Es könnte schön sein. Wäre da nicht dieser intensive Minzteegeruch. Ich rücke unauffällig ein Stück zur Seite, ab da ist es richtig nett. Irgendwann sind unsere Tassen leer, wir zahlen und verabschieden uns. Ich wage mich vor und hauche Thilo einen Kuss auf die Lippen. Nur, um mal zu kosten, wie er schmeckt, so ein Teekuss. Ist aber leider nicht mein Ding, Biominze hin oder her. Auf dem Rückweg nach Hause fluche ich lautlos, finde mich anstrengend und megafreakig – und kann doch nicht über meinen Schatten springen.
    Eine ganze Woche blase ich Trübsal in meinen perfekten Kaffee, dann hat meine Schwester Geburtstag: Und da ist gute Laune Pflicht. Tatsächlich schaffe ich es raus aus dem düsteren Kaffeesatz meines Weltschmerzes und lerne an der Salatschüssel Samuel kennen. Seine Wurzeln liegen da, wo der beste Kaffee wächst: in Mexiko. Er hat espressoschwarze Augen, milchkaffeebraune Haut und einen ausgezeichneten Musikgeschmack. Wir diskutieren über Pop und Rock, meine Wangen glühen, der Abend wird lang und länger, irgendwann macht meine Schwester die Rolläden runter und schmeißt uns raus. Die Nacht ist frostig, wir schlendern durch menschenleere Straßen, der Wein verfliegt im eisigen Wind und mit ihm die Wärme auf meinem Gesicht. Mir ist kalt, ich bin müde, noch eine Ecke, dann sind wir bei mir. Ich spiele mit dem Haustürschlüssel. Gleich sind wir da und die Frage liegt in der Luft: „Möchtest du noch auf einen Kaffee hochkommen?“ Doch kurz bevor ich sie ausspreche, wird mir klar, dass es mir dabei tatsächlich um den Kaffee gehen würde, ihm höchstwahrscheinlich nicht. Im letzten Moment entscheide ich mich um. Es ist 6:00 Uhr, die Bäckerei am Marienplatz hat schon geöffnet.
    „Kaffee?“, frage ich.
    „Gerne“, strahlt Samuel, runzelt jedoch gleich darauf die Stirn, als ich den Schlüssel zurück in meine Handtasche werfe und ihn mitschleife. Die Bäckerei ist niedlich, die Croissants himmlisch, der Kaffee Standard. Der Vollautomat ist noch nicht startklar, er muss sich erst waschen und putzen, gurgeln und unappetitliches Wasser auspullern. Dann ist er bereit für unsere Wünsche. Mir ist klar, dass er sie nicht vollends erfüllen kann, schließlich kenne ich sein Angebot. Aber der Café Crème ist okay. Wie immer beginnt mein Herz zu rasen, kurz bevor mein Date einen Kaffee bestellt. Diesmal dürfte aber nichts schiefgehen. Ich mustere Samuel von der Seite. Jede Wette, dass er einen Espresso bestellt: schwarz, pur, leidenschaftlich.
    „Einen Milchkaffee bitte“, lächelt er milde.
    Ich falle aus allen Wolken. Weichspülerkaffee. Da kann man auch gleich warme Milch trinken. Als Samuel dann auch noch das Kakaoherz der Bäckerin nimmt, geht gar nichts mehr. Ich stürze meinen Kaffee runter und muss dringend ins Bett. Allein. Doch der Kaffee hält ich wach. Und die Frage, ob ich mit meiner Kaffeefiltermethode auf dem Holzweg bin. Was, wenn ihn nicht finde, meinen idealen Kaffee-Partner? Oder schlimmer noch: ich begegne ihm und wir haben uns bei der perfekten Tasse Kaffee nichts zu sagen. Und was, wenn sein Kuss zwar schmeckt, aber sich nicht gut anfühlt? Oder wir uns bei der Frage, wer morgens Kaffee kochen soll, in die Wolle kriegen? Und wenn dann noch seine Turnschuhe schlimm stinken, oh Gott. Die Vorstellung macht mich fertig. Darauf brauche ich erst mal einen Trösterkaffee. Aber ich habe keine Reismilch mehr. Mit hängendem Grübelkopf schlappe ich zu meinem Bioladen, greife wie ferngesteuert in die Reismilchecke – und schrecke zurück. Da hat jemand zur gleichen Zeit den gleichen Tetrapack gegriffen.
    „Sorry“, grinst der Jemand. Er hat hellbraune Mandelaugen.
    „Kein Problem“, lächle ich müde zurück.
    „Ich fürchte doch“, sagt er.
    „?“, mache ich wortlos.
    „Eine Milch, zwei Leute“, fasst er zusammen, was ich noch nicht gerafft habe.
    „Oh“, ist das Einzige, was mir dazu einfällt. Ich brauche dringend einen Kaffee, und zwar einen mit Reismilch.
    „Wie machen wir es?“, fragt mein Reismilchkonkurrent.
    „Halbe, halbe?“, schlage ich vor. „Ich wohne um die Ecke und habe einen Messbecher.“ Er lacht. Das klingt ganz wohlig und ansteckend. Ich lache mit. „Münze werfen?“, mache ich einen zweiten Versuch.
    „Härtefallregelung!“, hält er dagegen.
    Ich grinse siegessicher: Diese Milch gehört so gut wie mir. „Ich muss ein paar schwere Sinnfragen mit einem guten Kaffee runterspülen, einem Trostkaffee – und der geht nur mit Reismilch.“
    „Verstehe“, nickt er. „Da landen wir vermutlich bei einem Unendschieden. Ich komme gerade aus dem Nachtdienst, einem echt harten. Vor allem wegen des schlechten Kaffees. Ohne einen Einschlafkaffee mit Reismilch werde keine süßen Träume haben.“
    Ich kaue auf der Unterlippe: Diese Milch zu bekommen wird schwieriger als gedacht.
    „Los, wir machen die Mickimaus!“, schlägt er vor.
    „?“, mache ich schon wieder.
    „Zog sich mal die Hose aus“, fährt er fort und deutet auf sich.
    Nee, so läuft das nicht: „Ich bin raus.“
    „Bist du noch nicht“, widerspricht mir mein Reismilchgegner. „Es geht doch weiter: zog sie wieder an,“ sein Finger springt von sich zu mir und zurück, ich begreife: das ist ein Abzählreim, wie witzig „und du bist dran.“ Er tippt mir an die Schulter.
    „Mickimaus hat gewonnen“, jubele ich, schnappe die Milch und halte sie wie eine Trophäe in die Höhe. Er heult wie ein verletzter Wolf, das trifft mich mitten ins Herz. Bevor ich darüber nachdenken kann, sage ich: „Magst du auf einen Kaffee mitkommen?“ Mein neuer Reismilchfreund (er heißt Leon) lächelt ein Ja. Ich freue mich darüber, werde rosa und ein bisschen kribbelig: hoffentlich schmeckt ihm mein Reismilchkaffee. Leon ist davon begeistert: Er erkundigt sich nach Bohnensorte, Mahlgrad und Ziehzeit, ich mag ihn mit jedem Schluck mehr – und will nicht, dass er geht. Zwei Tassen sind noch in der Kanne, ich bin gerade dabei, ihm nachzuschenken, da sagt er: „Nein, danke!“ Mein Herz bleibt stehen, Leon fährt mit einem entschuldigenden Lächeln fort: „Ich muss dringend weniger Kaffee trinken. Eigentlich will ich irgendwann mal ganz damit aufhören. Wegen der Gesundheit.“ Ernsthaft? Das darf doch nicht wahr sein! Da habe ich meinen perfekten Coffee-Match gefunden: attraktiv, witzig und ohne Stinkesocken. Und dann will er dem Kaffee abschwören. Das Schicksal hat einen echt schrägen Humor. Aber da lache ich nur drüber. Ich gieße beide Becher voll und sage: „Egal, dann trinke ich eben deine Tasse mit.“

  • Meine Pizza auf Instagram
    picture by Nieves Barreto

    Sonntagabend, ich gucke gerade Tatort, da meldet sich mein Handy: Es ist Nina. Mit der habe ich Abi gemacht. Nina ist so hübsch wie früher, macht tolle Urlaube, kann super backen, hat einen attraktiven Mann und drei süße Kinder. Das weiß ich von ihrem Messenger-Profil. Mit ihr geredet habe ich seit Jahren nicht, nicht mal am Telefon, hatte irgendwie nie die Zeit dafür – oder habe sie mir nicht genommen.
    „Hallo Miri“, schreibt Nina mit Winkesmiley. „Geht’s dir gut? Ich habe sooo lange nichts von dir gehört. Gestern war im Greens Jahrgangstreffen. Lucie, Jenny und Sarah waren auch da. Das war sooo lustig. Schade, dass du nicht dabei warst. Du bist nicht auf facebook, oder? (trauriges Smiley) Habe ich zu spät gecheckt. Beim nächsten Mal sage ich dir Bescheid, ja? Schick doch mal ein Foto! Ich weiß gar nicht mehr, wie du aussiehst.“ Ich gucke an mir runter, schnipse einen Chipsbrösel von meinem T-Shirt und denke: Das willst du auch besser nicht wissen. Aber gestern, da wäre ich schon gern dabei gewesen. Wieso habe ich das nicht mitbekommen? Nun, ich lebe in einer anderen Stadt, habe andere Lokalnachrichten und Plakatwände. Doch das kann nicht Grund sein, das ist mir klar. Es fehlt der Kontakt zu meinen ehemaligen Klassenkameraden. Überhaupt kommen Freunde oft zu kurz. Tags bin ich mit Arbeit, Kind, Kaninchen, Hund und Haus voll beschäftigt, abends bin ich platt. Wann soll ich da noch telefonieren? Oder mich gar verabreden? Geht ja allen irgendwie so. Vielleicht aber auch nicht. Was, wenn die anderen viel mehr miteinander quatschen, lachen, Spaß haben? Und nur ich bekomme nichts davon mit, weil das an mir vorbei auf facebook passiert! Werde ich vergessen, weil es im Internet kein Foto von mir gibt?
    Ich bin nicht so dicke mit der digitalen Kommunikation: mich in beengten Sprechblasen andauernd zu vertippen, finde ich anstrengend. Es frustriert mich, für die Hälfte dessen, was ich sagen will, die doppelte Zeit zu brauchen und dabei auch noch Missverständnisse einzuprogrammieren. Und fotografieren find ich auch so lala. Nicht die besten Voraussetzungen für Social Media.
    Trotz meiner Kurznachrichten-Abneigung unterbreche ich mein gemütliches Abendprogramm und schreibe Nina eine Antwort: „Voll schön, von dir zu hören!“ Mit drei Herzchen, weil ich mich wirklich total über ihre Sprechblase freue. Dann berichte ich über dies und das, und werde dabei immer genervter, weil die dumme Sprachintelligenz mir die Worte im Mund verdreht. Dennoch kämpfe ich mich tapfer durch drei Absätze, korrigiere sogar Rechtschreibfehler, füge ein Küsschensmiley hinzu und wünsche mir die Zeit zurück, in der man echte Briefe geschrieben hat. Die hatten noch Format: A4 oder wenigstens A5. Zu guter Letzt probiere ich sogar ein Selfie, sehe dabei aber aus wie ein Seeelefant in der Mauser, deshalb schicke ich kein Foto. Nina schreibt nicht zurück. Irgendwie macht mich das traurig.
    Montagnachmittag, ich war einkaufen: Tiefkühlpizza im Angebot. Ich habe gleich einen ganzen Stapel mitgenommen, für wenn-es-mal-schnell-gehen-muss. Und das muss es oft. Während ich den Tiefkühlpizzaturm in den Vorratsraum balanciere, fällt mir etwas ins Auge: eine bunte Kamera, auf dem Pizzakarton. Ich brauche einen Augenblick, um zu verstehen: Die TK-Pizza ist auf Instagram! Und ich habe nicht mal ein Profilbild bei meinem Messenger. Das trifft mich so hart, dass ich mich erst mal setzen muss. Wieder komme ich ins Grübeln, so, wie gestern Abend bei Ninas Nachricht. Machen denn alle Social Media, nur ich nicht? Bei Whatsapp bin ich. Wegen der Kitagruppe. Mein Adressbuch sagt mir, dass viele meiner Kontakte da sind. Ab und zu kommt ein lustiges Video rein. Das war’s. Und das ist auch vollkommen fein. Denn chatten tun wir auf der Straße, zwischendurch, wenn man sich zufällig beim Bäcker trifft oder gemeinsam einen Kaffee auf der Spielplatzbank trinkt. Doch gerade jetzt, mit der medienkompetenten Pizza auf dem Arm, spüre ich, dass da etwas in mir nagt. Ich denke an Nina und dass ich gern wieder enger mit ihr wäre. Und was ist mit Caro, meiner Studienfreundin oder Tami, mit der ich meine ersten Joberfahrungen gemacht habe? Von denen habe ich schon Ewigkeiten nichts mehr gehört. Bestimmt sind sie bei Xing und LinkedIn, da sind auch viele meiner Kolleginnen. Ich dachte immer: das brauche ich nicht. Schließlich kann man sich in der Kantine verabreden, telefonieren oder Mails schreiben. Könnte man, ja, aber macht man es auch? Vor allem, wenn man sich im Alltag nicht sieht. Fernfreundschaften gehen da schnell unter. Vielleicht ist ein Online-Sozialnetz doch nicht schlecht. Und ich habe keins! Mir wird ganz flau.
    Ich beschließe, dem auf den Grund zu gehen. Aber nicht mit leerem Magen. Also schiebe ich eine Quattro Formaggi in den Ofen und klappe meinen Laptop auf. Leider ist mein Internetbrowser so alt, dass er nicht mal Wikipedia öffnen kann. Aktualisieren will er sich auch nicht mehr, so kurz vor der Rente. Alter Sturkopf. Ich bekomme Panik: Bin ich längst auf dem Abstellgleis? Um mich zu beruhigen, esse ich ein Stück Pizza und lese nebenbei, dass Menschen, die online sichtbar sind, für kompetenter gehalten werden. Das muss ich erst mal verdauen. Wenn ich so weiter mache, streicht meine TK-Pizza die nächste Gehaltserhöhung ein. Und meine Schreibtischgummibärchen wollen nicht mit mir befreundet sein. Das darf ich nicht zulassen, ich nicht von der Bildfläche verschwinden! Außerdem interessiert es mich, wo meine Pizza Urlaub macht. Ich schiebe den Teller beiseite, kremple die Ärmel hoch und klicke mich durch: Twitter, Facebook, LinkedIn. Ich akzeptiere so viele Cookies, bis ich pappesatt bin, dann habe ich mich entschieden: Ich starte meine Social-Media-Karriere auf Instagram. Gefällt mir, das Format. Da muss man nur Fotos knipsen, der Aufwand scheint überschaubar. Und ich kenne schon jemanden: meine Pizza! Rasch gebe ich E-Mail und Telefonnummer ein, easy. Jetzt kommt der Benutzername. Ich probiere Schnuffel, Knuffel, Mäuschen85, am Ende sogar Darth Vader. Alle vergeben. Sogar Aschenputtel hat einen Account. Geschlagen gebe ich meinen Klarnamen ein. Und stelle entsetzt fest: Mich gibt es bereits. Mit Punkt, Unterstrich, groß- und kleingeschrieben. So viele Doppelgänger, das ist fast ein bisschen unheimlich. Trotzig nenne ich mich Miriam_die_X und fühle mich dabei ein wenig royal. War doch gar nicht so schwer. Zufrieden gönne ich mir eine Limo und überlege beim Eingießen, ob ich die gleich mal posten soll. Sieht nämlich köstlich aus: erfrischend orangig, zum neidisch Werden. Während ich das Foto schieße, frage ich mich, wen wohl meine Limo interessieren mag. Nina vielleicht? Schließlich weiß sie nicht, was ich an einem gewöhnlichen Montag gegen siebzehn Uhr trinke. Die Limo auf dem Bild sieht gut aus, ich bekomme sofort Durst. Doch bevor ich sie trinken kann, stürmt meine Tochter herein und schnappt sie mir vor der Nase weg. Jetzt muss die Bildunterschrift wohl lauten: „das wäre meine Limo gewesen“. Egal, es hätte sowieso niemand gewusst, welche der zig Miris die Limotrinkerin ist, denn ich habe ja kein Profilfoto. Ich schenke mir nach (lecker!) und mache ein Selfie. Wieder grinst mich der Seeelefant an. Happy sieht er aus. Aber nicht wirklich online-fein. Ich fürchte, da hilft auch kein Filtern, das Original muss restauriert werden. Entschlossen entstaube ich mein Schminkkästchen, ignoriere das Badchaos und mache mich daran, mein Gesicht aufzuräumen.
    „Kann ich mich auch anmalen?“, fragt meine Tochter. Sie hat den ganzen Nachmittag Matschbrühe gekocht und sieht auch so aus. Vielleicht sollte ich mir auch statt Makeup Modder ins Gesicht schmieren. Das bringt bestimmt viele Likes und macht ganz nebenbei eine schöne Haut. Aber nein, ich will ja fresh und modern wirken. Ich hole für Emmi die Kinderschminke raus und für mich wasserfeste Wimperntusche. Emmi legt sofort los und pinselt sich rote Kreise auf die Wangen. Wenn das bei mir nur auch so einfach wäre. Ungeduldig zupfe ich schwarze Klümpchen, die aussehen wie die Hinterlassenschaft irgendeines Insektes, von meinen Wimpern. Der Maskara ist eingetrocknet, der Puder rissig, man merkt: ich bin weder auf Partner- (Gott sei Dank, nicht auch noch Onlinedating) noch auf Jobsuche (die würden bestimmt meine Pizza einstellen).
    „Soll ich dich schminken?“, bietet Emmi an. Ich lehne höflich ab, heute will ich kein Clown sein. Leider weiß meine Handykamera das nicht. Zuerst macht sie wieder ein Seeelefantenfoto. Meine Nase ist gigantisch, mein Kinn klein mit Doppelfalten. Krasse Kombination. Hätte nicht gedacht, dass das überhaupt geht. Als nächstes sehe ich aus wie ein Hase, der sich selbst parodiert. Ich habe eindeutig zu viel Profil für ein Profilfoto. Ich lasse das mit dem Grinsen und kümmere mich als nächstes um meinen Zombiblick. Die Augenringe sehen echt gruselig aus, als wäre ich Drakula mit Schlafstörungen. Alles eine Frage des Lichtes, lese ich auf einem Foto-Blog. Also rücke ich Lampen, stelle mich vor’s Fenster und spaßenshalber hinter einen Vorhang: Das findet Emmi lustig, ich auch, wir lachen uns schlapp. Jetzt habe ich wenigstens eine gesunde Hautfarbe. Aber die Schatten unter den Augen bleiben. Was nun? Einen verrückten Augenblick lang erwäge ich die Möglichkeit, auf das Makeup-Angebot meiner Tochter zurückzukommen, entscheide mich dann aber für eine Zwischenlösung: Ich fotografiere einen Gegenstand. Meine Kaffeetasse ist öde, die Tulpen schlapp, aber Emmis Pastik-Dino, der hat was. Zufrieden betrachte ich den Alamosaurus und stelle mir vor, wie ich mit so einem langen Hals aussehen würde. Der würde bestimmt ganz großartig zu meiner Rüsselnase und dem Faltenkinn passen. Ich bekomme einen irrwitzigen und unglaublich befreienden Lachanfall. Noch schlimmer wird es, als meine Tochter mir sehr bestimmt mitteilt, dass der Dino nicht Miriam_die_X heißen will. Natürlich respektiere ich die Wünsche des Dinos und meiner Tochter und lade kurzerhand eine Zitrone aus dem Gemüsefach hoch. Hoffe, dass das okay für sie ist. Beschwert hat sie sich jedenfalls nicht. Und frisch sieht sie auch aus. Deutlich frischer als ich.
    Fakt ist, wenn ich mich nicht in Clown_Miri oder Zitrus_Miri umbenennen will, muss ich mich besser in Szene setzen. Kein Problem, ich bin ja nicht auf den Kopf gefallen (auch wenn ich so aussehe), ich lerne einfach von den Besten. Die ganze Nacht hindurch studiere ich die Top-Influencer und mache mir eine Erfolgsliste: 1. Oversize-Schick (overknee & belly free sind nicht so mein Ding), 2. Urlaubsstrandbeine und 3. leckeres Essen! Am nächsten Tag mopse ich mir also ein Herrenhemd von meinem Mann. Lässig & leger will ich sein. Wichtig ist nun, die Übergröße auch auf das Foto zu kriegen – was gar nicht so leicht ist. Ich knipse von links oben, rechts unten, vor, zurück, zur Seite, ran: Bis mein Handyspeicher voll und mein Arm lahm ist. Endlich habe ich es geschafft. Leider steht im Hintergrund der Mülleimer, mit offener Klappe, als wolle er mich in den Po beißen. Wer gemein ist, könnte behaupten, ich sähe aus, als wolle ich putzen. Mit Sonnenbrille und Schmollmund. Toll. Vielleicht wird das Strandfoto besser. Nun habe ich erst in sechs Wochen wieder Urlaub, es ist April und das Wetter zum Abgewöhnen: fünf Grad, Hagelschauer und Windböen. Aber ich bin wild entschlossen. Ich schlüpfe in mein Bikinihöschen und stapfe in Badelatschen zum Sandkasten. Der Nachbar guckt verwirrt über den Gartenzaun, fragt aber glücklicherweise nicht nach. Das tut dann meine Tochter, extra laut, aus dem Fenster im Obergeschoss: „Was machst du da?“ „Ein Experiment“, rufe ich zurück und habe nun die Aufmerksamkeit der gesamten Nachbarschaft sowie etwaiger Passanten. „Ich will mitmachen!“, brüllt Emmi von oben. Jetzt muss ich schnell sein, bevor ich von Sandtörtchen und Hexenpampe in Plastikeimern umzingelt bin. Ich setze ich mich auf den Rand und räume Schippe und Förmchen beiseite. Dann schiebe ich meine Füße in den nassen, kalten Sand. Brr. Bevor meine Zehen blaufrieren knipse ich: Urlaubsbeine im Sandstrand. Drinnen am Bildschirm sehen sie leider aus wie die einer federlosen Weihnachtsgans. Ich seufze und ziehe eine Zwischenbilanz: Bis gestern fand ich mich, meine Nase und Beine okay. Heute fühle ich mich wie ein Seeelefant mit Gänsebeinen, online erscheine ich als adelige Zitrone mit Putzfimmel. Ich bin mir nicht sicher, ob mir meine digitale Revolution beruflich oder privat eher nutzt oder schadet. Frustriert schiebe ich eine TK-Pizza in den Ofen. Meine Tochter jubelt, meine Mann gibt mir einen Kuss: „Du bist die Beste!“ Hach, das sind meine wahren Follower – oder doch die der TK-Pizza? Wie auch immer: Ich schieße ein Foto von der Spinaci speciale, der ich zur Belustigung meiner Tochter zwei Tomatenaugen und einen Möhrenbart verpasst habe, und vernetze und verhashtage mich mit ihr. Vielleicht folgt meine Pizza mir sogar irgendwann. Und nachher werde ich Nina anrufen. Sie freut sich schon, das hat sie mir auf meine Mini-Nachricht mit Telefon-Icon und Freundinnen-Smiley geantwortet. Ich freue mich auch. Dann können wir ausgiebig quatschen, ohne enge Sprechblasen. Und vielleicht verabreden wir uns mal auf eine Pizza, mit Rotwein und lustigen Freundschaftsselfies. Das wird spaßig. Meine TK-Pizza wird Augen machen!

  • Frühling süßsauer
    picture by Nieves Barreto

    Es ist 23:30 Uhr und ich staple Umsatzzahlen von rechts nach links, räume PowerPoint-Folien auf, rechne Kosten nach, passe Grafiken an: ein ganz normaler Abend. Mein Magen knurrt, ich frage mich, ob ich heute noch etwas zu essen kriege. Wahrscheinlich wird es wieder der Asia-Snack in der Berliner Straße, der hat am längsten geöffnet. Meine Arbeitstage sind lang und voll, mein Kühlschrank kalt und leer. Ich ziehe meinen Schal enger um den Hals, die Klimaanlage surrt ihre Standardraumtemperatur, mir ist das zu frostig, vor allem nachts.
    23:32 Uhr, eine Palindromuhrzeit. Jippie! Leider ist keiner mehr da, mit dem ich meine Freude darüber teilen könnte. Würde sowieso keiner verstehen, außer Nils aus dem Controlling, wir teilen den gleichen Humor. Er schickt mir oft schräge Mathematikerwitze, über die wir via Smileys im Office-Chat grinsen. Aber auch Nils ist schon offline. Ich bin die Letzte im Büro, wie so oft. Und das nicht, weil ich langsam bin, sondern, paradoxerweise, weil ich schnell bin. Effizient. Leistungsstark. Ich gebe immer zweihundert Prozent. Also bekomme ich auch Arbeit für zwei. Mein Chef vertraut mir, ich kriege die wichtigsten Projekte, das macht mich stolz. Ich liebe es, smarte Lösungen für unlösbare Probleme zu finden, vorne mitzuschwimmen, jeden Tag eine Herausforderung zu meistern: Schneller, höher, weiter. Aber jetzt gerade bin ich nur müde. Leider ist morgen Vorstandsmeeting, da muss jede Zahl am richtigen Platz sitzen. Ich drücke also meine Schultern durch, die ganz rund sind von den vielen Schreibtischstunden und haue in die Tasten.

    00:52 Uhr, als ich aus dem Gebäude trete umfängt mich eine laue Nacht. Der Springbrunnen vor dem Haupteingang plätschert munter, Sterne funkeln, ein einsamer Vogel singt. Es duftet nach zarten Blüten und frischer Erde. Der Frühling ist da! Wann ist das denn passiert? Ich bleibe wie angewurzelt stehen und blinzele in das Frühlingserwachen. War nicht gerade noch Weihnachten? Natürlich weiß ich, dass heute der dreizehnte März ist: Mein erster Blick nach dem Aufwachen geht auf den Terminkalender, wie auch der letzte vor dem Einschlafen. Doch da stehen nur Meetings. Meine Zeitrechnung richtet sich nach Projektplan, Jahreszeiten kommen darin nicht vor. Ich atme tief ein, kann gar nicht genug bekommen von dem Frühlingsduft. Wie ist wohl der Tag gewesen? Hat die Sonne geschienen oder gab es Regen? Keine Ahnung. Ich blicke auf den Gehweg zu meinen Füßen, suche im gelben Laternenlicht nach einem Anhaltspunkt. Als könne mir das Wissen um das Wetter den verlorenen Tag zurückbringen. Ein mulmiges Gefühl packt meinen Magen. Und es ist nicht der Hunger. Trotzdem mache ich mich auf den Weg zum Asia-Snack, bevor Mailin zumacht und ich außer dieses komischen Grummelns nichts mehr in den Bauch bekomme.

    Mailin ist ein Schatz, sie wirft extra für mich noch mal die Fritteuse an und bereitet mir mein Lieblingsgericht: Frühlingsrollen. Dann setzt sie sich zu mir und trinkt einen Tee, während ich gegen die heiße Teigtasche puste und über den Frühling nachsinne. Es ist meine Lieblingsjahreszeit: blühende Bäume, zartes Grün, nicht zu warm, nicht zu kalt. Perfekt für Picknicks und Spaziergänge. Nur, wann habe ich dies das letzte Mal gemacht? Das vergangene Jahr ist vorbeigerauscht, genau wie das davor. Ich war mehr drinnen als draußen, kenne die branchenspezifische Wachstumserwartung der nächsten fünf Jahre – „und habe keine Ahnung, ob die Osterglocken im Park schon blühen“, grüble ich in meine Frühlingsrolle.
    „Tun sie“, klärt Mailin mich auf.
    Auch das noch! Insgeheim hatte ich gehofft, diese laue Nacht wäre ein Versehen. Dass der Frühling nicht ohne mich angefangen hätte. Wie konnte mir das nur entgehen? Ich bin doch gut informiert, kenne den aktuellen Börsenkurs und sogar die US-News. Nun, Osterglocken gehören halt nicht zum Tagesgeschäft.
    „Sollten sie aber!“, sagt eine Stimme in mir drin. Als ich noch ein Kind war, habe ich ab Februar jeden Tag darauf gewartet, dass die gelben Blüten sich entfalten. Denn das hieß, dass Ostern vor der Tür steht: mit Eiertrudeln, Omas Hefezopf und süßen Schokohasen. Dann kam immer die ganze Familie zusammen: zu einem lauten, lustigen Frühstück, das bis in den Nachmittag reichte. Die letzten Jahre bin ich nicht dabei gewesen. Hatte zu viel zu tun. Ich schlucke, der Bissen sitzt fest. Verpasse ich nicht nur den Frühling, sondern viel mehr als das?
    „Frühlingsanfang ist doch erst in einer Woche“, unternehme ich einen letzten Versuch, die Dinge zu wenden. Mich selbst und meine Welt wieder auf Kurs zu bringen.
    „Sagt wer?“, hält Mailin dagegen.
    „Mein Kalender.“
    „Ach, und der bestimmt, wie das Leben läuft?“
    Meines schon, denke ich. Und das macht mir zum ersten Mal irgendwie Angst. Normalerweise geben mir To-Do-Listen und Termine Struktur und Sicherheit. Sie zeigen mir den Weg, den ich langlaufen soll, und die Aufgaben, die ich lösen muss. Gerade fühlen sie sich jedoch wie ein Käfig an, der mich vor meinem eigenen Leben wegsperrt.
    Ich tunke meine zweite Frühlingsrolle in die süßsaure Soße und überlege, wann ich zuletzt etwas mit Freunden unternommen habe. – – – Leere.
    „Meine besten Freunde sind Excel und PowerPoint“, stelle ich entsetzt fest und sacke unter der Last dieser Erkenntnis zusammen.
    „Sind sie nett?“, zwinkert Mailin mir zu.
    „Zuverlässig“, grinse ich gequält zurück.
    „Immerhin“, gähnt Mailin und macht sich auf, den Imbiss zu schließen. Ich danke ihr: für die Frühlingsrollen und den netten Abend. Die goldene Katze auf dem Tresen winkt mir zum Abschied. Ich winke zurück, Mailin lacht darüber und ich fühle mich ein wenig leichter. Doch tief in mir drin arbeitet ein komplizierter Algorithmus weiter. Und die Frage, die er zu lösen angetreten ist, lautet: Bin ich glücklich?

    Am nächsten Morgen erinnert mich mein Handy, dass Julia aus dem Marketing heute Geburtstag hat. Ich gratuliere ihr via Messenger und wünsche ihr einen sonnigen Tag. Sie hat gute Chancen darauf, nur 10% Regenwahrscheinlichkeit, das habe ich in der Wetterapp gecheckt. Seltsamerweise macht mich das traurig. Weil ich weiß, dass ich nichts davon mitbekommen werde. Ich bin durchgetaktet bis 18:00 Uhr.
    Langsamer als sonst gehe ich den gewohnten Weg: die Straße runter, Zwischenstopp beim Bäcker, danach weiter zur U-Bahn. Normalerweise schaue ich dabei auf’s Handy, heute blicke ich zurück. Was habe ich in den vergangenen Jahren erlebt? Und wieviel wohl verpasst? Studium in Rekordgeschwindigkeit, schicke Geschäftsessen, gutes Gehalt, meine Karriereleiter ist steil, ich nehme Stufe um Stufe mit sicherem Schritt. Aber ich war schon jahrelang nicht mehr joggen, an der Bar versacke ich höchstens mal mit Kolleginnen und in meiner hellen, großen Altbauwohnung bin ich nur zum Schlafen.

    Als ich am Bäcker ankomme, brauche ich einen Augenblick um mich zu sortieren, ich bin voll neben der Spur, und bereits fünf Minuten zu spät.
    „Wie immer?“, begrüßt mich die Bäckerin. Sie scheint mich und mein allmorgendliches Dinkelbrötchen zu kennen, mir ist noch nie aufgefallen, dass sie blond ist und ein Piercing trägt. Ich will schon nicken, da entscheide ich mich kurzerhand um: „Ein Möhrenmuffin, bitte.“ Mein Lächeln ist wacklig, meinen Wangen verlegenheitsrot, ich kann mich nicht erinnern, ihr je einen schönen Tag gewünscht zu haben. Heute mache ich es und bekomme ein breites Grinsen zu meinem Kuchen geschenkt. Kaum draußen, beiße ich sofort hinein: Gegen die bange Leere in meinem Bauch. Ich schließe die Augen, spüre die Morgenfrische auf meinen Wangen, die Marzipanmöhre schmilzt auf der Zunge, das merkwürdige Trudeln in meinem Kopf lässt ein wenig nach. Vielleicht brauche ich nur etwas frische Luft, eine kleine Pause, gleich jetzt. Ich beschließe, nicht wie sonst in der U-Bahn zu frühstücken, nebenbei, während ich die ersten E-Mails beantworte, sondern hier. Auf einer Bank, auf der ich noch nie gesessen habe. Gegenüber steht ein Bücherschrank. Ist der neu? Bestimmt nicht. Ein Mann steuert darauf zu: dunkler Wollmantel, schick, kein aktuelles Modell, vielleicht sogar secondhand, dazu ein roter Schal, Jeans und blonde Locken. Gefällt mir. Jetzt nimmt er ein Buch heraus, dreht es, liest den Klappentext, stellt es zurück, nimmt ein anderes: Das soll es sein. Er klemmt es unter den Arm und eilt davon. Ich wüsste gern, welches Buch gewählt hat: Lyrik, Thriller oder Ostfrieslandkrimi? Unwillkürlich überlege ich, was ich mir aussuchen würde. Ich habe schon ewig keinen Roman mehr gelesen. Die Lektüre stündlich aktualisierter Meldungen zu Politik und Wirtschaft bergen Nervenkitzel und Herzschmerz genug. Trotzdem, für einen Wimpernschlag lang tue ich mir leid.
    Ich sehe dem Mann nach, der gerade im U-Bahn-Schacht verschwindet. An jedem anderen Tag hätte ich auch den Sieben-Uhr-Zug genommen. Vielleicht hätte ich sogar neben ihm gesessen – und es nicht mal bemerkt, vertieft in Mails und Newsletter. Heute wünschte ich, er hätte sich zu mir auf die Bank gesetzt und wir würden über Bücher plaudern. Wie lange hatte ich eigentlich kein Date mehr? Ich gehe dem Gedanken nicht weiter nach, denn plötzlich ist es wieder da, dieses klamme Gefühl im Magen. Rasch beiße ich in den Muffin, aber die Süße kann den fahlen Geschmack auf meiner Zunge nicht übertünchen. Habe ich überhaupt noch ein Leben außerhalb der Firma?
    Ein Spätzchen kommt angeflattert und hopst um meine Beine. Es sucht nach Krümeln. „Hallo, süßer Pieps“, begrüße ich ihn und zupfe ein Stückchen von meinem Muffin ab. Mein kleiner Spatzenfreund schnappt sich den Leckerbissen und tschilpt keck. Ich vermute, das heißt: „Danke sehr, bitte mehr davon“. Mir wird ganz warm ums Herz, ich möchte ihm am liebsten noch ein wenig beim Krümelfrühstück zusehen. Aber mein Handy mahnt mich, ich muss mich beeilen, das erste Meeting beginnt in einer halben Stunde. Mails rasseln in mein Postfach, das Summen und Klingeln verscheucht das Spätzchen. Schade.

    Es ist kaum richtig hell, als ich in der Firma ankomme. Ich blicke in den Himmel, heute werde ich genau darauf achten, wie das Wetter wird. Die App sagt mir, dass ab 11:00 Uhr die Sonne rauskommt. Da sitze ich im Vorstandsmeeting. Irgendwas ziept plötzlich heftig in meinem Herzen. Ist das ein Infarkt? Nein, ich kenne das Gefühl. Es ist Enttäuschung. Weil man nicht dabei sein kann. Das habe ich das letzte Mal gespürt, als ich nicht mit meinen Freunden ins Freibad durfte, weil ich Fieber hatte.
    Vor meinem inneren Auge dreht sich die Uhr verpasster Sonnenstunden. Schneller und schneller. Aus dem Herzstechen wird ein Rasen. Langsam gehe ich die Treppe zum Haupteingang hoch und fädle mich in die Drehtür. 7:50 Uhr, ich bin spät dran. Aber noch ist es nicht zu spät! Die Drehtür ist halb rum, jetzt müsste ich reingehen. Doch ich kann nicht, laufe weiter und weiter, immer im Kreis, ein paar Kolleginnen steigen zu, grüßen, ich lächle zurück und drehe noch eine Runde. Dann springe ich ab, hüpfe raus aus dem Karussell und hinein in den anbrechenden Frühlingstag. Auf dem Weg die Stufen runter begegne ich meinem Chef.
    „Was vergessen?“, fragt er und runzelt dabei die Stirn. Seit ich hier arbeite, habe ich nie irgendwas vergessen: keinen Termin, keinen Rückruf, keine Mail. Nur eines: „Zu leben“, rufe ich ihm zu. Und dann renne ich los, ohne zurückzusehen. In den Park, Osterglocken gucken. Und vielleicht lade ich Nils später auf ein Picknick ein, mit köstlichen, knusprigen Frühlingsrollen.

  • Hallo und herzlich willkommen!
    picture by Nieves Barreto

    Darf ich vorstellen? Das ist mein Blog. Er ist witzig, nett und freut sich über jeden, der ihn liest.
    Worum es hier geht, fragst du dich? Um Essen! Doch es ist kein Food-Blog, jedenfalls kein klassischer. Ich kann nämlich nicht besonders gut kochen oder backen. Eher so mittel: Rührkuchen ist okay, Rührei auch. Aber ich esse gern! Ich bin verrückt nach Pizza und Pommes, Kuchen und Karotten oder besser gleich Karottenkuchen. Es gibt nur eine Sache, die ich genauso leidenschaftlich liebe wie gutes Essen: gute Geschichten! Am besten ist jedoch die Kombination von beidem: Ein Buch mit Keksen oder eine kulinarische Geschichte. Da bekomme ich immer sofort Hunger.
    Geht es dir auch so? Dann bist du hier genau richtig!
    In diesem Blog kommen Geschichten und Essen zusammen: Beide sind Teil unseres Alltags, untrennbar verknüpft zu dem, was man Leben nennt. Denn was wäre eine Hochzeit ohne Torte? Oder ein Baby ohne Brei? Wie viel Herzklopfen passt in eine Eiswaffel? Und wie viele Liter Eis braucht man, um Liebeskummer zu ertränken? Darüber schreibe ich hier: In kurzen, knackigen Stories. Ein erfrischender Snack für zwischendurch: beim Warten auf den Bus oder in der U-Bahn. Und obgleich ich die Zutaten für meine Geschichten nicht auf dem Wochenmarkt einkaufe, versuche ich sie frisch, natürlich, saisonal und regional zu erzählen.
    Ich wünsche dir viel Lesehunger und hoffe sehr, dir schmecken meine Geschichten.
    Guten Appetit!


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